Ich hab mich oft gefragt, was es bis heute damit auf sich hat, dass wir Start-ups so stark angezogen werden von alten Fabrik-Etagen und ehemaligen Arbeiter*innen-Vierteln.
In den 90er Jahren war die Hamburger Schanze nicht hipp wie heute. Sie war abgeranzt, viele fanden sie sogar gefährlich. In der Mitte wurde sie von einem riesigen Schlachthof beherrscht, der sich nach und nach aus dem Viertel zurückzog. Wir liebten es dort. Alle wollten wir dort sein: Kabel New Media, Pixelpark (Paulus Neef), unsere coolen Freunde von Fork Unstable Media (Carl Manuel Funk, David Linderman). Der Fotograf Jens Röttger machte eine Fotoserie und lichtete uns Start-up Chefs ab im Stil der früheren Metzgermeister.
Unser ganzes Leben spielte sich auf St. Pauli ab. Morgens Kitty Voo, mittags Bok, Unter den Linden oder Cucinaria. Dann die vielen glorreichen Abende im Kochsalon von Telse Bus, wo ihre Mädels die Lieblingsessen ihrer verflossenen Liebhaber kochten. Nach der Arbeit ging es in den Mojo Club (wo wir einmal im Monat eine Party ETREMA veranstalteten, mit dem legendären DJ Raphaël Marionneau.). Ich war total verschossen in diesen Kiez.
Wir haben St. Pauli so gut wie nie verlassen. Die ganze Welt musste zu uns kommen – EU-Minister, Presseleute, Investoren sowieso. Tapfer in Anzügen über schlechtes Kopfsteinpflaster und unüberwindbare Regenpfützen.
Mit unserer gigantischen Expansionswut haben wir damals das Viertel schwer bedrängt. Ich habe jeden Winkel der Gegend besichtigt für mögliche Büroräume. Sogar den damals leerstehenden Wasserturm haben wir größenwahnsinnig erwogen als Netzpiloten Hauptquartier.
Wäre der Dotcom Crash 2001 nicht gekommen, würde die Schanze heute vielleicht ganz anders aussehen. Auch unsere aufrichtige Liebe zum Viertel hätte die Preissteigerungen nicht verhindert. Vieles von dem Charme, der uns ursprünglich angezogen hatte, wäre vermutlich verschwunden.
Und die Schlachthausromantik biss uns irgendwann auch in den Hintern: Wir arbeiteten mit über 100 Leuten im ehemaligen Verwaltungsgebäude des Schlachthofs (wir hatten die Stadt angebettelt, dass sie uns die Räume technisch für uns herrichtete). Nicht geahnt hatten wir, dass der ganze Häuserblock gigantisch unterkellert war und von dort die ekligsten Verwesungsgerüche der Fleischabfälle zu uns in die Räume krochen. Auch Wälder von Duftbäumen halfen da nichts.
Zur Sammlung der Netzpiloten Wayback-Posts
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